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Wenn Angehörige zum Nichtstun verdonnert werden

Wieso riecht es in Kranken­häusern so? Ich kann nicht beschreiben wie. Es ist dieser typ­is­che Kranken­haus­duft, den jed­er von uns ken­nt. Ist es Desin­fek­tion­s­mit­tel? Sind es Sal­ben? Vielle­icht das Putzmit­tel? Geputzt wird ständig, das fällt auf. Oder erweckt zumin­d­est auf mich den Anschein.

Es ist der 10. Okto­ber 2016, kurz vor acht Uhr mor­gens. Ich sitze vor der Infor­ma­tion im 16. Stock des Uni­ver­sitätsspi­tals Chuv in Lau­sanne und warte. Es ist die Sek­tion Herz und Gefäss­chirurgie. Ein Pfleger schob meinen jüng­sten Brud­er vor zehn Minuten in die Oper­a­tionsvor­bere­itung. Ihn erwartet heute eine Oper­a­tion am Herzen. Schon wieder.

Der Autor Raouf Sel­mi lei­det am soge­nan­nten Mar­fan-Syn­drom. Die auto­so­mal-dom­i­nante Erbkrankheit geben Eltern mit 50-prozentiger Wahrschein­lichkeit ihren Nachkom­men weit­er. Die Muta­tion tritt aber auch spon­tan auf und kommt mit ein­er Häu­figkeit von cir­ca 1 : 5000 vor. Sie zeich­net sich unter anderem durch die Schwächung des Bindegewebes aus, die eine Vielzahl an Beschw­er­den mit sich bringt. Am häu­fig­sten treten Erweiterun­gen der Herzge­fässe auf. Haupt­säch­lich an der Aor­ta. Andere bekan­nte Symp­tome sind die Loslö­sung des Hal­teap­pa­rates der Lin­sen (Lin­sen­lux­a­tion), Über­streck­barkeit der Gelenke (Hyper­lax­iz­ität) und die Defor­ma­tion der Wirbel­säule (Sko­liose). Genau wie Raouf Sel­mi lei­det auch sein kle­in­ster Brud­er am Marfan-Syndrom.

Vor den an der Wand aufgerei­ht­en Warteplätzen ste­ht eine lange Theke. Dahin­ter tippt eine ältere Dame mit grau-meliertem Haar konzen­tri­ert einen Stapel Zettel in den Com­put­er ab. Ab und zu schaut sie auf, um sich zu vergewis­sern, dass nie­mand an der Theke steht.

Ich baue Brück­en. Bridge Con­struc­tor heisst das Smart­phone­spiel. Die Auf­gabe des Spiels ist sim­pel: Der Spiel­er baut mit begren­ztem Bau­ma­te­r­i­al eine Brücke. Darüber schickt er Autos und Last­wa­gen. Hält die Brücke, ist das Lev­el geschafft. Stürzt sie ein, muss nachgebessert werden.

Ständig öffnet sich der Lift hin­ter uns. „Bon jour“, erklingt es chorähn­lich. Eine Gruppe Pflegerin­nen geht an uns vor­bei und steuert hin­ter die Theke. Es ist die Schichtablösung.

Ich, meine Fre­undin, mein ander­er Brud­er und meine Eltern sitzen schweigend nebeneinander

Erstaunlich, wie jed­er von uns anders mit der Sit­u­a­tion umge­ht. Mein Brud­er star­rt seit gut ein­er Stunde ins Leere. Meine Mut­ter blät­tert zum fün­ften Mal die gle­iche Zeitschrift durch. Mein Vater ste­ht alle zehn Minuten auf, um die Dame hin­ter dem Tre­sen irgen­det­was zu fra­gen. Ab und zu schauen wir einan­der an, sagen kein Wort.

Wer kann es uns verü­beln. Immer noch tief sitzt uns die Oper­a­tion von vor zwei Jahren im Nack­en. Damals operierten Spezial­is­ten meinen Brud­er an der Aorten­wurzel. „Ver­glichen mit der Let­zten, ist diese Oper­a­tion ein Klacks”, sagten uns zumin­d­est die Chirur­gen und Ärzte, die wir in den ver­gan­genen Tagen reden hörten. Mein Brud­er muss dieses Mal „nur“ die Herzk­lap­pen operieren. Nicht wirk­lich ein Trost.

Die Ausweitung der Aorten­wurzel ist ab einem Gren­zw­ert von rund 55 Mil­lime­tern kri­tisch. Nähert sich der Patient diesem Wert, erset­zen Chirur­gen die Aorten­wurzel durch eine Prothese. Bei Oper­a­tio­nen am offe­nen Herzen über­brück­en die Oper­a­teure den Kreis­lauf mith­il­fe ein­er Herz-Lun­gen­mas­chine. Für den Ein­griff ste­ht das Herz still. Bei manchen Patien­ten kommt es vor, dass das Herz nach dem Ein­griff nicht mehr ord­nungs­gemäss anläuft. Dann set­zen die Ärzte dem Patien­ten ein Herz­schrittmach­er ein. Beim Brud­er von Raouf Sel­mi trat dies ein.

Ein weit­eres bei Mar­fan-Patien­ten ver­bre­it­etes Phänomen ist das Über­schla­gen der Mitralk­lap­pen. Die Herzk­lap­pen schliessen wegen des schwachen Bindegewebes beim Pumpvor­gang nicht kor­rekt. Es kommt zum Blutrück­fluss und damit zu uner­wün­scht­en Ver­wirbelun­gen in den Herzkam­mern. Das Straf­fen der Herzk­lap­pen gilt heutzu­tage als Routineeingriff.

Fast zwei Monate lang lag mein Brud­er im Novem­ber 2014 im Zürcher Uni­ver­sitätsspi­tal. Davon einen Monat auf der Inten­sivs­ta­tion. Damals hörte ich unzäh­li­gen Ärzten, Anäs­the­sisten und Chirur­gen zu. Ver­standen habe ich nichts. Das Fachchi­ne­sisch lähmte und ver­set­zte mich in eine Art Schock­zu­s­tand. Fra­gen kamen mir erst zu Hause in den Sinn. Wie ein Déjà-vu kreisen die Erin­nerun­gen in meinem Kopf. Ich habe das Gefühl, es sei erst gestern gewe­sen. Wieso scheint die Zeit jet­zt stillzustehen?

Es ist kurz vor neun Uhr. Wir entschliessen uns, zum Kaf­fee zu gehen. Mein Vater bleibt.

Der Weg in die Cafe­te­ria führt durchs halbe Gebäude zurück ins Erdgeschoss.

Die Cafe­te­ria des Uni­ver­sitätsspi­tals ist um diese Zeit gut beset­zt. Noch find­et sich aber Platz. Als ich am Tisch sitze und in meinen Kaf­fee blicke, gehen mir tausend Gedanken durch den Kopf: „Geht alles gut? Was wenn nicht? Was machen sie ger­ade? An was schnei­den die Ärzte rum?“  Ich ver­suche, das Kopfki­no auszuschal­ten. Ich habe wieder das Handy in der Hand. Brück­en bauen.

Das Mar­fan-Syn­drom tritt nicht bei allen Betrof­fe­nen gle­ich in Erschei­n­ung. Ein­er­seits gibt es Patien­ten mit sehr aus­geprägten Merk­malen und einem dementsprechend schw­eren Krankheitsver­lauf und ander­er­seits Men­schen, die kaum Merk­male aufweisen. Früh diag­nos­tiziert kann die Krankheit heute gut behan­delt wer­den. Die Lebenser­wartung ist beina­he dieselbe, wie bei gesun­den Men­schen. Den­noch ster­ben nach wie vor viele Betrof­fene an den Fol­gen der vererb­baren Bindegewebeschwäche. Der Grund dafür ist die fehlende Diag­nose. Vor allem bei Frauen fehlt wegen ihres bere­its von Natur aus zier­lichen Kör­per­baus häu­fig der Befund. Ein Riss der Aor­ta ver­läuft in der Regel tödlich.

Mit­tler­weile ist es kurz nach elf Uhr. Ich entschliesse mich, mir die Beine zu vertreten. Ich gehe alleine und steure durch das halbe Kranken­haus. Hier gibt es alles. Ein Friseur­sa­lon, ein Blu­mengeschäft, einen kleinen Klei­der­laden, ein Bankschal­ter und sog­ar eine kleine Poststelle.

Es ist ein son­niger Tag, weswe­gen viele Patien­ten vor dem Ein­gang des Kranken­haus­es ste­hen oder auf den Bänken sitzen und der Sonne frö­nen. Fast alle rauchen. Das Bild ist surreal.

Nach ein­er Vier­tel­stunde habe ich genug und mache mich auf den Rück­weg. Kurz vor Mit­tag ist der Verkehr in den Gän­gen am schlimm­sten. Der Weg gle­icht einem Hin­dernislauf: Wis­chmob, Essenswa­gen, nasse Stellen, Eimer­wa­gen, Pflegeper­son­al und hin­ter jed­er Ecke dro­ht die Kol­li­sion mit einem dieser. Je näher ich der Cafe­te­ria komme, desto mehr ver­mis­cht sich der typ­is­che Kranken­haus­geruch mit dem Mit­tagessen. Manch­mal frage ich mich, wie die Men­schen im Kranken­haus über­haupt Hunger kriegen kön­nen. Es ist nicht nur der Geruch, es ist die ganze Atmo­sphäre, die mir hier den Appetit verdirbt. Ob die Warterei bald ein Ende hat?

Auf­grund der hohen Belas­tung müssen Oper­a­tio­nen am ste­hen­den Herzen nach vier Stun­den eingestellt wer­den. Auch der Kreis­lauf lei­det unter der kün­stlich in Gang geset­zten Zirku­la­tion der Herz-Lun­gen­mas­chine. Trotz der zeitlichen Lim­ite kön­nen solche Oper­a­tio­nen länger dauern. Bei Arbeit­en an Gefässen kommt es häu­fig zu Neben­blu­tun­gen oder Throm­bosen, die nach der eigentlichen Oper­a­tion gestillt oder behoben wer­den müssen. Meist sind solche Kom­p­lika­tio­nen harm­los und wer­den von den Ärzten schnell gelöst. Wegen der Bindegewebeschwäche ist bei Mar­fan-Patien­ten das Risiko ein­er Neben­blu­tung oder ein­er Throm­bose höher als bei nor­malen Herzpatienten.

Die Geräuschkulisse der Cafe­te­ria ist anstren­gend. Der typ­is­che Kan­ti­nenkrach. Geschirr klimpert, Kinder schreien, Kaf­feemühlen fräsen und Dutzende ver­schiedene Gespräche ver­schmelzen zu einem akustis­chen Brei. Begleit­et wird der Lärm vom nicht abreis­sen wol­len­dem Piepsen der Kasse.

Über den Tisch gelehnt, nippe ich an meinem Kaf­fee. Er ist viel zu heiss. Das dachte ich bere­its gestern, nur jet­zt scheint sich mein Unter­be­wusst­sein darauf festz­u­fahren. „Ob ich die Tem­per­atur ein­stellen kann?” Ich befinde mich auf halbem Weg zur Kaf­feemas­chine, als ich bemerke, wie lächer­lich mein Vorhaben über­haupt ist.

Mein Handy klin­gelt. Es ist mein Vater. Bevor ich den Anruf beant­worte, schaue ich auf die Uhr im Dis­play. Es ist Vier­tel nach zwei.

Dein Brud­er ist fer­tig. Sie machen ihn ger­ade bere­it für die Inten­sivs­ta­tion. Es geht ihm gut.”

Ich ste­he auf und set­ze mich wieder. Ich ste­he erneut auf und gehe umher. Mein Brud­er meine Fre­undin, meine Mut­ter, alle ste­hen auf und fol­gen mir.

Mein Vater redet am anderen Ende, bei mir kommt nichts mehr an. Ich höre ihm nicht zu. Stattdessen kreisen mir neue Fra­gen im Kopf herum: Wo ist die Inten­sivs­ta­tion? Wo gehe ich durch, wo ste­ht das angeschrieben? Wo ist die Infor­ma­tion? Ich laufe hin und her und meine Fam­i­lie fol­gt mir auf Schritt und Tritt. Das Handy halte ich mir noch fest ans Ohr gedrückt. Ich schaue meine Fre­undin an, meinen Brud­er, meine Mut­ter und das Einzige, was ich raus­bringe, ist: “Sehr gut, sehr gut, sehr gut”, ich wieder­hole es immer wieder. Ich lege auf.

Es ist alles gut, er ist fer­tig”, sage ich erle­ichtert. Meine Mut­ter fällt mir in die Arme und fängt sofort an zu weinen. Die Erle­ichterung ist über­wälti­gend. Als wir den Lift erre­ichen, merke ich erst, dass ich nicht mehr aufhören kann zu grin­sen, und plöt­zlich riesi­gen Hunger habe.

Kranken­häuser, wie das Chuv in Lau­sanne oder das Insel­spi­tal in Bern gehören heute europaweit zu den führen­den Kliniken im Bere­ich der Herz- und Gefäss­chirurgie. Spezial­is­ten des Insel­spi­tals in Bern haben seit eini­gen Jahren eine Mar­fan-Sprech­stunde. Dort informieren sie Betrof­fene und Ange­hörige detail­liert über die Krankheit und die Behand­lungsmeth­o­d­en. Die Wahrschein­lichkeit heute bei ein­er Her­z­op­er­a­tion zu ster­ben, liegt bei weniger als einem Prozent.

Weit­ere Infor­ma­tio­nen und Erfahrungs­berichte find­en inter­essierte Leserin­nen und Leser auf der Inter­net­seite der Mar­fan-Stiftung Schweiz. www.marfan.ch