Die Sonne kitzelte bereits den Horizont, als Raouf die Rollläden im Schlafzimmer seiner 3‑Zimmer-Wohnung hochkurbelte. Mit einer geübten Bewegung öffnete er ruckartig das Fenster zur Strasse. Die Fenster waren so alt und verzogen, dass es für jemanden, der die Tücken der Verriegelung nicht kannte, zur regelrechten Geduldsübung werden konnte, sie zu öffnen. Die Luft roch nach Winter und auf dem Fenstersims glitzerten Eiskristalle. Der Winter ist nun definitiv im Anmarsch“ dachte Raouf. Ihm fröstelte es, als er seinen Kopf aus dem Fenster streckte – so kalt war es draussen. Es war kurz vor sechs Uhr morgens und der Verkehr war gerade dabei, nun allmählich ins Rollen zu kommen. Raouf hatte für heute einen Termin mit einem Physik Professor an der Uni Bern vereinbart. Vor ihm lagen also noch gute zweieinhalb Stunden Autofahrt. Schlaftrunken wankte er durch die Küche zum Bad. Beim Vorbeilaufen schaltete er routiniert die Kaffeemaschine ein. Unter der Dusche ging er Stück für Stück nochmals die Fragen durch, die er, bis spät in die Nacht, vorbereitet hatte.
„Schwarze Löcher“ dachte er.
Erst hatte es Raouf für eine Wahnsinnsstory gehalten. Je mehr und je intensiver er darüber recherchierte, umso mehr widerte ihn das Thema an. Alles bloss unbeantwortete Fragen und wage Theorien. Das war alles, was ihm die Astrophysik zu bieten hatte. Die Kaffeemaschine drückte mit dröhnendem Lärm das Wasser tröpfchenweise durch die Kaffeekapsel. Raouf liebte den Geruch von Kaffe, es erinnerte ihn immer an die Küche seiner Mutter, wo es, egal um welche Zeit, immer nach frisch gemahlenem Kaffe roch. Während er behutsam den Kaffe schlürfte, kontrollierte er nochmals sein Equipment: Mikrofon, Batterien, Tisch-Stativ, Popschutz. Es war alles da. Er kippte den Kaffe in einem Zug runter, schulterte seine braune Ledertasche, klemmte sich den Laptop unter den Arm und machte sich auf den Weg zu seinem Auto. Hüstelnd und nur sehr widerwillig startete der Motor, seines uralten Opel Astras. Wie jedes Mal vor einer grösseren Reise, betete Raouf, dass ihn diese Mistkarre heute hoffentlich nicht hängen lassen würde. Als Raouf auf die Autobahn einbog, war es kurz nach sieben Uhr. Die Reise sollte sich letztlich als unkompliziert herausstellen. Sogar die Stadtumfahrung in Zürich bereitete ihm keine Schwierigkeiten. Der Verkehr rollte. Kurz nach halb zehn erreichte Raouf den Parkplatz der Universität in Bern. Wie erwartet war natürlich kein einziges Parkfeld frei. Und so kurvte er dann eben zehn Minuten lang um das Gelände, bis er in einer Seitenstrasse einen freien Parkplatz in der blauen Zone entdeckte.
„Blaue Zone – echt super“
murmelte er vor sich hin. Als Ankunftszeit stellte er elf Uhr auf der Parkkarte ein. Wohlwissend, dass ihn das eine Parkbusse kosten könnte. Er spekulierte aber darauf, dass in der nächsten Stunde niemand kontrollieren kommt. Um zehn Uhr sollte, laut dem E‑Mail des Professors, die Vorlesung beginnen. Der hatte ihn auch schon gewarnt:
„Sie werden wahrscheinlich insgesamt nicht viel von der Vorlesung verstehen können, aber vielleicht ist zumindest der Beginn für sie von Interesse.“
„Papperlapapp.“ Murmelte Raouf wieder vor sich hin.
Schliesslich hatte er schon zahlreiche Stunden damit verbracht, sich über die Materie zu informieren. Raouf würde schon mitkommen, dessen war er sich sicher. Raouf war gestern noch auf den Blog des Professors gestossen, als er auf der Suche nach einem Bild von diesem war. Der Vorlesungsblog war schlecht strukturiert und kaum formatiert. Wahrscheinlich war das aber auch nicht nötig. Emotionen musste man mit Physik ja offensichtlich keine transportieren. Insgesamt machte die Uni einen ganz normalen Eindruck; Auf dem Campus standen rauchende Studierende und bis auf die Einstein-Statue am Eingang, gab es keinerlei Anzeichen darauf, dass es sich hierbei um ein Naturwissenschaftliches Institut handelte. In der Lobby angekommen steuerte Raouf schnurstracks auf den Kaffeeautomaten zu. Er wusste zwar genau, dass das braune Gebräu aus solchen Automaten nicht im Entferntesten etwas mit richtigem Kaffee zu tun hatte, wollte aber einfach etwas Warmes zur Zigarette. Der Automat spuckte den Kaffee förmlich in den weissen Plastikbecher. Das Geräusch, das die Maschine dabei machte, erinnerte dabei viel mehr an eine Holzwerkstätte, als an eine Kaffeezubereitung. Er nahm den Becher vorsichtig aus der Maschine und pustete leicht über die dampfende Oberfläche des Gebräus. Gerade als er sich umdrehen wollte, um wieder auf den Campus heraus zu laufen, kam ihm der Professor entgegen. Raouf erkannte ihn sofort. Er sah genau so aus wie auf dem Bild seines Blogs.
„Professor Blau?“ fragte Raouf.
„Ja, ganz genau. Und Sie sind?“
fragte der Professor, während er eine Münze in denAutomaten warf.
„Raouf Selmi, von der HTW in Chur,“ Raouf musste seine Stimme erheben, weil der Kaffeeautomat wieder angefangen hatte. zu sägen.
„Sie erinnern sich, wir haben uns für heute verabredet. Ich komme zur Vorlesung und dem anschliessenden Interview.“
Raouf streckte ihm die Hand zu.
Der Professor grüsste ebenfalls und setzte ein Lächeln auf.
„Ah, genau. Sie kommen wegen den schwarzen Löchern.“
Der Professor bückte sich leicht und nahm den Becher aus dem Automaten.
„Ich gehe noch kurz raus, kommen Sie mit?“
Raouf dachte dabei an die Zigarette.
„Ja, klar. Ich wollte eben gerade auch raus.“
Der Professor kramte nervös in der linken Tasche seines dunkelbraunen Sakkos und brachte eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug zum Vorschein. Ein bisschen erinnerte Raouf der Professor an den Meister Einstein persönlich. Er trug eine ähnliche Frisur wie Einstein: Knapp schulterlanges zersaustes Haar und eine stark ausgeprägte Stirnglatze.
„Nun müsste er nur noch die Zunge raus strecken“ dachte Raouf.
Hastig steckte er sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie an.
„Nun Herr Selmi, erklären Sie mir noch mal: Um was geht es genau in Ihrer Arbeit?“
Raouf, der sich eben auch eine Zigarette angesteckt hatte stiess hastig den Rauch aus: „Wie Sie wissen, schreibe ich einen Artikel über schwarze Löcher und möchte dabei die Hawking-Strahlung genauer unter die Lupe nehmen. Ich möchte auf möglichst einfache Weise…“
Der Professor unterbrach ihn.
„Hawkingstrahlung – Ein sehr anspruchsvolles Thema muss ich sagen. Mir ist allerdings rätselhaft, wie Sie dieses Thema ohne physikalische Grundkenntnisse verstehen wollen.“
Der Professor setzte ein hämisches Grinsen auf.
„Nun, das Thema ist in der Tat anspruchsvoll,“ erwiderte Raouf gelassen. „Mir sind gewisse Details noch nicht ganz klar und deswegen bin ich hier.“
Der Professor stiess einen Lacher aus.
„Haha! Herr Selmi selbst mir ist bei dem Thema noch längst nicht alles klar. Aber schön sind Sie hier. In fünf Minuten geht es los. Vorlesungsraum 1.04 im ersten Stock.“
Der Professor drückte die Zigarette aus und hastete wieder in Richtung Gebäude. Raouf stand ganz perplex vor der Einstein-Statue, zog nochmals an der Zigarette und hastete hinterher. Raouf hatte sich den Vorlesungsraum eindeutig grösser vorgestellt. Es war eher ein kleines Klassenzimmer. Vorne hing eine fast schon antike Wandtafel und direkt neben dem Lehrerpult stand ein in die Jahre gekommener Hallraumprojektor. Vor der Wandtafel stand zudem ein Korpus mit einem Waschbecken und diversen Anschlüssen. Raouf kannte solche Zimmer noch aus dem Biologieunterricht. Zuletzt sass er in der Oberstufe in solch einem Raum und sezierte Frösche. Es waren bereits fünf, sechs Leute im Raum. Ausgerüstet mit Block und Kugelschreiber. Laptops waren keine zu sehen. Raouf nahm in der zweiten Reihe Platz. Genau um zehn Uhr stürmte der Professor in das Klassenzimmer. Die Türe liess er offen. Genau so hektisch wie er ins Klassenzimmer gekommen war, begann er dann auch dieVorlesung:
„Guten Tag miteinander und herzlichen willkommen zur Vorlesung über schwarze Löcher und die Hawkingstrahlung. Heute haben wir einen Student von der HTW Chur zu Besuch. Der angehende Multimediaproduzent möchte einen Artikel überschwarze Löcher schreiben. Bitte entschuldigen Sie ihn, falls er in der Hälfte der Vorlesung einfach abzischt. Ich habe ihm empfohlen, die Vorlesung zu verlassen, sobald er den Faden verliert.“
Die anwesenden Studenten setzen sich aus Doktoranden und Masterstudenten zusammen. Astrophysik konnte man nur mit einem abgeschlossenen Physik Studium studieren. Keiner der anwesenden Studenten machten auch nur den kleinsten Anschein, Raouf begrüssen zu wollen. Mit den Blicken auf ihre Notizblöcke gerichtet wirkten einige von ihnen schon fast apathisch. Es herrschte absolute Stille. Raouf klappte als einziger sein Laptop auf, um sich während der Vorlesung Notizen machen zu können. Der Professor hastete die ganze Vorlesung durch hin und her. Seine Gedanken kritzelte er mit Kreide auf die Wandtafel. Die Sonne schien allerdings dermassen lästig durch das Fenster hinein, dass Raouf nicht einmal die Hälfte davon entziffern konnte. Während der ersten Viertelstunde kamen laufend neue Leute in die Vorlesung. Nun war Raouf auch klar, wieso der Professor die Türe offen gelassen hatte. Als dann insgesamt zwölf Personen im Raum waren, schien die Klasse vollzählig zu sein. Es kam auf jeden Fall niemand mehr hinein. Zu Beginn konnte Raouf dem Professor noch relativ gut folgen. Je tiefer der Professor aber in die Materie eindrang, desto schwieriger wurde es für Raouf, ihm zu folgen. Nach einer guten Stunde gab Raouf schliesslich auf. Er verstand schon seit gut zwanzig Minuten kein einziges Wort mehr. Mit den unzähligen mathematischen Formeln konnte er ausserdem auch nichts anfangen. Die einzigen Zeichen die Raouf bis dahin noch erkannte waren die verschiedenen Variabeln, von denen er aber längst nicht alle eindeutig zuordnen konnte und das immer wieder kehrende Zeichen für die Unendlichkeit (∞). Leise klappte Raouf sein Laptop zu und schlich in Richtung Ausgang. Auch hier wieder absolute Stille. Man hörte nur den Professor. Dieser, allerdings schien sich über Raouf zu amüsieren und winkte ihm mit dem bekannten hämischen Grinsen hinterher.
Unten angekommen, lief Raouf zuerst wieder zu der Einstein-Statue am Eingang und zündete sich eine Zigarette an. Die Vorlesung würde voraussichtlich erst gegen halb eins fertig sein. Bis dahin würde Raouf warten müssen. Er setzte sich in der Lobby auf einen Bank und ging seine Notizen durch. Um zwanzig nach zwölf lief der Professor die Treppe hinunter und steuerte in Richtung Ausgang. Raouf folgte ihm. Draussen zündete er sich eine Zigarette an und fragte belustigt:
„Und, wie hat es Ihnen gefallen Herr Selmi“
Raouf erwiderte sein Lächeln und antwortete:
„Danke, sehr gut. Leider musste ich nach einer Stunde aufgeben. Ich habe nichts mehr verstanden.“
„Das ist nicht so schlimm“, meinte der Professor, „damit habe ich ja gerechnet. Nun bin ich gespannt auf ihre Interviewfragen.“
„Nein, ich bin gespannt auf Ihre Antworten, Herr Professor!“
erwiderte Raouf
Der Professor drückte seine Zigarette aus und sie machten sich zusammen auf den Weg in sein Büro.
und das ist dabei rausgekommen…