Ein interessanter Artikel über die veränderung der Arbeitsmethoden und der Rohdaten-Beschaffung von Journalisten. Gefunden in der NZZ am 3. April 2012
Eine Grafik sagt mehr als tausend Daten
Wie die Computertechnik den Journalismus verändert
Shazna Nessa entwickelt für die Agentur AP Möglichkeiten, komplexe Informationen augenfällig darzustellen. (Bild: Keystone / AP)
Dank neuen Techniken können komplexe Datenmengen viel besser als früher visualisiert werden. Diese Entwicklung wird den Journalismus stark prägen.
Autor: Stephan Weichert
Wenn es um Daten geht, fangen Aron Pilhofers dunkle Augen an zu funkeln. Da wird der schmächtige, etwa ein Meter fünfundsiebzig grosse Mann gesprächig: «Daten sind per definitionem das Rohmaterial, das Journalisten nutzen können, um daraus Rückschlüsse zu ziehen», sagt er. Und: «Der Zugang zu grossen Datensätzen erlaubt uns, Geschichten zu erzählen, die wir vor fünf oder zehn Jahren noch nicht erzählen konnten. Dafür gebrauchen wir Werkzeuge, die früher undenkbar waren und mit denen wir grosse Datensätze im Netz visualisieren können.»
Pilhofer ist, so steht es auf seiner Visitenkarte, Editor of Interactive News der «New York Times». Der gut Vierzigjährige ist in der amerikanischen Medienbranche einer der tonangebenden Köpfe auf dem Gebiet des sogenannten Data Driven Journalism, also des Datenjournalismus, einer journalistischen Nische, in der viele Brancheninsider die bevorstehende Revolution des Journalismus wittern.
Eine lange Geschichte
Auch wenn der Datenjournalismus hierzulande als hip und zukunftsweisend gilt – revolutionär sei das Jonglieren mit Daten nicht, sagt Pilhofer: «Der Datenjournalismus hat eine sehr lange Tradition, vor allem in den USA. Das geht zurück bis in die 1960er Jahre, als die ersten Journalisten Grossrechner benutzten, um Daten zu analysieren. Sie verknüpften dabei Werkzeuge aus Sozialwissenschaften und Statistik, um Geschichten zu erzählen.»
Bahnbrechend sei derzeit diese Art Journalismus vielmehr, weil nun Daten nicht mehr nur Teil der Recherche seien, sondern weil auch die Bürger einbezogen würden: «Wir Journalisten geben ihnen die Analysewerkzeuge in die Hand, mit denen die Nutzer ihre eigenen Geschichten in den Daten finden können. Diese neue Entwicklung haben wir mit dem Etikett des Datenjournalismus versehen.»
Im Grossraumbüro der «New York Times» in der Eighth Avenue in der Nähe des Times Square dirigiert Pilhofer eine 14-köpfige Gruppe, die sich mit Vorliebe auf monströse Datenmengen stürzt, um diese statistisch zu portionieren, journalistisch zu gewichten und anschliessend für die Website in bunte, interaktive Grafiken zu verwandeln.
Die Visualisierung endloser Datenketten und die Bereitstellung von Navigationshilfen sind nicht nur das Ergebnis einer fein abgestimmtem Teamarbeit, sondern erfordern auch technisches Know-how. Entsprechend breit ist das berufliche Profil von Pilhofers Mitarbeitern: Journalisten mit Informatikabschluss und Computerkenntnissen arbeiten hier eng zusammen mit Statistikern und Webdesignern, aber auch mit klassischen Rechercheuren. Ihre Aufgabe ist es, unverständliche Zahlenkolonnen – häufig amtliche Statistiken, Klima- oder Wirtschaftsdaten – für Web-Applikationen aufzubereiten und die Datensätze optisch miteinander in Beziehung zu setzen.
Dass das professionelle Zusammenspiel von dynamischem Storytelling, investigativer Recherche und hindernisfreiem Zugang zu Rohdaten aus Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft oder Medizin funktioniert, hat die «New York Times» in den vergangenen Jahren vielfach beweisen können – sie erhielt dafür renommierte Preise. Dabei gilt die zusammen mit Wikileaks erfolgte Veröffentlichung der geheimen Afghanistan-Protokolle im Juli 2010 als Durchbruch für den Datenjournalismus. Die «Times» demonstrierte damals gemeinsam mit dem britischen «Guardian» und dem «Spiegel», wie eine riesige Menge von 92 000 Dokumenten innert nützlicher Frist journalistisch aufbereitet werden kann. Im Herbst 2010 folgte die Publikation von Irak-Dokumenten: In einer bis dahin einzigartigen Kollaboration der Redaktionen von «Times», «Guardian», «Spiegel» und des Fernsehsenders al-Jazira wurden knapp 400 000 Datensätze in beeindruckende multimediale Erzählformen übersetzt.
Von diesem Innovationsschub profitiert die Abteilung Interactive News bis heute, wobei sich das Themenspektrum erheblich verbreitert und die Nachfrage vervielfacht hat: Ob Euro-Krise, globale Erderwärmung, Barack Obamas Haushaltsdefizit, das darbende amerikanische Bildungssystem, die Kosten von 9/11 für die Steuerzahler, die Ursachen für den Tsunami in Fukushima, die Antrittsreden aller US-Präsidenten, der genaue Fundort Usama bin Ladins oder das Arbeits- und Freizeitverhalten der Amerikaner – es gibt kaum noch Datensammlungen, an die sich Pilhofers Leute nicht herantrauen.
Zur Wirtschaftlichkeit des eigenen Tuns befragt, sagt Pilhofer selbstbewusst: «Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Medienhäuser mit Datenjournalismus kein Geld verdienen können. Werbekunden wollen einzigartige Inhalte und keine, die man überall im Netz finden kann. Mein Team kreiert einzigartige Inhalte.» Die Werkzeuge zur Visualisierung von Daten seien inzwischen zwar grossartig und für fast jedermann zugänglich, aber nicht immer würden sie klug eingesetzt – eher im Gegenteil: «Es gibt heute eine Menge schlechter Visualisierungen – ich nenne das Datenpornografie».
Auch AP experimentiert
Shazna Nessa teilt seine Meinung, auch wenn die gebürtige Londonerin die Unsitte, Darstellungen mit Daten zu überfrachten, vornehmer benennt: «Bis zu einem gewissen Grad ist Datenjournalismus sinnvoll, es gibt aber eine Menge Informationen, die wir nicht verwenden können.» Nessa ist Mitte dreissig, gelernte Grafikerin; sie hat an der Sorbonne Literaturwissenschaften studiert und arbeitet seit 2008 als Director Interactive bei Associated Press (AP) in der Nähe der Penn Station in Manhattans Südwesten.
Im Hauptsitz der ehrwürdigen Nachrichtenagentur werden in einem uncharmanten Hochhauskomplex aus den siebziger Jahren ebenfalls Unmengen an Daten gebändigt. Nessa und ihre Kollegen experimentieren in einem der modernsten Newsrooms der USA mit interaktiven Visualisierungen. «Es gibt viele Abnehmer für unser Angebot», sagt die aus Bangladesh stammende Journalistin, «unsere Kunden sind aber nicht notwendigerweise Zeitungen.» Zu den Abnehmern gehörten auch die US-Regierung, Online-Portale wie Yahoo oder Fernsehunternehmen.
Um auf dem neuesten Stand zu bleiben, hat AP kürzlich gemeinsam mit Google ein Stipendium in Höhe von 20 000 Dollar für Studenten ausgeschrieben, die gute Ideen für die Schnittstelle von Journalismus und Technologie haben. Vor einigen Monaten wurde zudem ein interner Förderwettbewerb gestartet, der Mitarbeiter ermutigen soll, mit innovativen Geschäftsmodellen, aber auch mit interaktiven Recherchemöglichkeiten und Darstellungsformaten zu punkten.
Mehr Rohdaten als je zuvor
«Uns stehen mehr Rohdaten zur Verfügung als je zuvor, und wir haben die Verantwortung, die Geschichte darin zu finden», sagt Nessa und deutet auf einen überdimensionalen Farbdruck einer Infografik, der an ihrem Schreibtisch lehnt und die unzähligen Verbindungen der Wikileaks-Irak-Files in einem kunterbunten Prisma darstellt.
Der Nachwuchs braucht also neue Fertigkeiten. Dazu gehören für Nessa nicht nur ein Gespür für Grafikdesign und Multimedia, sondern auch Statistik- und Programmierkenntnisse. «Je mehr Journalisten lernen zu programmieren, desto eher sind sie der Schwierigkeit gewachsen, dass Geschichten anders erzählt werden müssen», sagt Nessa.
Das bedeute nicht, dass jeder Journalist Programmierer werden müsse. «Dennoch sollte jeder Journalist irgendwann einmal programmiert haben, um zu wissen, wie es geht», erklärt sie. Andernfalls seien Journalisten bei ihrer Arbeit zu sehr auf Dritte angewiesen: «Programmieren wird in Zukunft so zentral für unseren Beruf sein, dass man ohne dieses Wissen kaum noch journalistisch arbeiten kann.» Dabei gehe es nicht so sehr um das Erlernen von Programmiersprachen wie HTML, sondern um die Fähigkeit, mit Datenbanken und Tabellenkalkulationen souverän umzugehen, um daraus Muster herauslesen zu können, die wiederum für journalistische Geschichten relevant sein können.
Dieser datengetriebene Journalismus verändere das journalistische Geschichtenerzählen grundlegend: «Mit der neuen Technologie sind die Erzählweisen plötzlich viel transparenter und auf Konversation getrimmt», sagt Nessa. Es sei längst nicht mehr ausreichend, eine Geschichte zu veröffentlichen und abzuwarten, was passiere – die Rolle des Journalisten sei inzwischen eine interaktive, indem er Konversationen um seine Geschichte herum arrangiere und diese auch an die richtigen Zielgruppen adressiere, etwa über die sozialen Netzwerke. «Ich finde, das ist eine Chance für unseren Beruf, vor der Journalisten keine Angst haben müssen.»
Dass die Verbindung von journalistischem Handwerk und technologischem Know-how kein vorübergehender Hype ist, zeigen auch die Bemühungen des 2008 gegründeten gemeinnützigen Redaktionsbüros Pro Publica. Auch hier, unweit der Wall Street am New Exchange Plaza, wo Pro Publica mit seinen inzwischen 45 Mitarbeitern eine komplette Büroetage bezogen hat, laufen wesentliche Fäden für den Wandel des Journalismus zusammen.
«Wir bekommen immer mehr Zugang zu allen möglichen Daten, und die Werkzeuge dafür werden immer anspruchsvoller», sagt Scott Klein, Leiter der Datenabteilung. Klein ist kein Visionär, sondern eher ein bodenständiger Handwerker vom Typ Sherlock Holmes, der Spass daran hat, Datenrätsel zu knacken. «Bei einem Rechercheprojekt, das mit fragwürdigen Zahlungen der Pharmaindustrie an die Ärzte zu tun hat, war der Prozess des Datensammelns unglaublich kleinteilig und anspruchsvoll. Die Regierung übergab uns ein riesiges Datenpaket, das wir nur entschlüsseln konnten, indem wir eine eigene Software schrieben», sagt Klein stolz.
Einbezug der Nutzer
Die Redaktion hat die Recherchen um eine Crowdsourcing-Komponente erweitert, das heisst, die Nutzer werden in die Recherchen einbezogen. Deshalb gilt Pro Publicas Datenabteilung als die wohl modernste New Yorks. Unter der Führung von Paul Steiger, ehemaligem Chefredaktor des «Wall Street Journal», wurde von Beginn weg ein Netzwerk aus Bürgern als Hilfsrechercheuren und Informanten aufgebaut, die sachdienliche Hinweise via Datenbank hinterlassen können. Pro Publica wurde dafür bereits zum zweiten Mal ausgezeichnet. Trotzdem denkt auch hier niemand in Nullen und Einsen. Wie bei der «New York Times» und AP geht es den meisten Redaktoren praktisch und konkret darum herauszufinden, wie sich der Journalismus dem unweigerlichen Trend zur Digitalisierung stellen kann.
Stephan Weichert ist Professor für Journalistik an der privaten Macromedia-Hochschule für Medien und Kommunikation in Hamburg und Mitherausgeber der Debatten-Website Vocer.
Quelle: Artikel, Artikelbild